Im Besprechungsraum seiner Anwaltskanzlei über den Dächern Ulms hört der grüne Landtagsabgeordnete Jürgen Filius davon mit Verwunderung. „Das soll natürlich nicht sein“, sagt er über die Jogginghose. Zum ersten Mal erfährt der Abgeordnete von dem Drama unweit seiner eigenen Bürotür, und das, obwohl er als Strafvollzugsbeauftragter seiner Fraktion ausdrücklich zuständig ist für die Situation in den Gefängnissen des Landes. Der Fall weckt in ihm unangenehme Erinnerungen.
2010 hat Filius selber einen 20-jährigen Mandanten in der Ulmer JVA durch einen Suizid verloren. Der vorbestrafte Mann hatte sich gleich in der Nacht nach seiner Einlieferung mit einem Schal am Gitter des Zellenfensters erhängt. Auch in diesem Fall habe das Umfeld von den Selbstmordabsichten gewusst, sagt Filius. So etwas sei immer eine Niederlage für das ganze Vollzugssystem. „Der Entzug der Freiheit ist der größte Eingriff, den ein demokratischer Staat einem Menschen antun kann“, erinnert er. Daraus erwachse eine besondere Fürsorgepflicht.
Eine Psychose entwickelt sich
In der zweiten Januarwoche besucht Anwalt Rung seinen Mandanten zum letzten Mal. Er erlebt, wie Arman Garabed davon redet, dass er bedroht werde. „Dann hat er gesagt, er habe manchmal das Gefühl, der Boden komme ihm entgegen.“ Rung verspricht, sich um eine Verlegung in ein anderes Gefängnis zu bemühen. Als er gehen muss, bettelt Garabed, er wolle sofort mitgenommen werden.
Im Faltblatt des Justizministeriums steht, die Suizidgefahr steige oft „an Geburtstagen, auch und besonders von Familienangehörigen“. Am 13. Januar hat der älteste Sohn von Arman Garabed Geburtstag. Der Vater will den Sohn nicht sehen. Am 14. Januar schaut er mit seinen Mitgefangenen spätabends noch Fernsehen. Einer der Männer legt sich gegen 1 Uhr schlafen, der andere gegen 1.30 Uhr. In dem Haftraum, der den Grundriss eines L hat, belegt Garabed – ausgerechnet – das allein stehende Bett unter dem Fenster. Gegen 2 Uhr, so wird später rekonstruiert, schlingt der Häftling sein Bettlaken zu einem Seil. Er kippt das Fenster nach innen und knotet das Laken an einen Gitterstab. Aus dem Bund der Jogginghose zieht er die Kordel und fesselt damit seine Hände. Dann lässt er sich in die Schlinge fallen.
Die Ehefrau soll sofort über eine Organspende entscheiden
Etwa 20 Minuten später wacht einer der Mithäftlinge auf, er muss auf die Toilette. Alarm wird gegeben, ein Vollzugsbeamter reißt die Tür auf, reanimiert den 38-Jährigen, bis ein Arzt eintrifft. Am Tag darauf wird die Familie in die Universitätsklinik Ulm gerufen. Garabed ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen, wird künstlich beatmet und ernährt. Der Ehefrau wird eine sofortige Organspende nahegelegt. Der Patient sei hirntot, lautet die Diagnose. „Ich konnte das nicht sagen: schaltet ab“, erinnert sie sich. „Ich habe doch immer noch Hoffnung.“
Sie hat inzwischen Sozialhilfe beantragt. Vorher bekundeten Behörden auf ihre Weise Anteilnahme. Am 31. Januar, keine drei Wochen nach dem Drama, schickt die Kreisverwaltung Ravensburg der Frau einen Zahlungsbescheid in Höhe von knapp 60 000 Euro. Wegen des im Bankschließfach gefundenen Geldes soll sie sämtliche Sozialleistungen von 2005 bis 2012 zurückzahlen. Einen Tag später schickt das Finanzamt Post. Die Umsatzsteuer 2012 aus der Autohandelsfirma wird verlangt und vorsorglich auf gut 8000 Euro geschätzt. Das Landgericht Ravensburg hebt den Haftbefehl gegen den Komapatienten „in Ermangelung einer Fluchtgefahr“ auf, lässt das Verfahren aber nicht fallen. „Warum, das weiß ich nicht“, sagt Anwalt Rung. „Vermutlich geht es um die Verteilung des beschlagnahmten Geldes“. Gegenüber der Staatsanwaltschaft macht das Finanzamt schriftlich sein Vorgriffsrecht auf die Summe geltend.
Die Ärzte in Wangen wollen noch kämpfen
Ein sanfter, rötlicher Schein von Winterabendsonne färbt die schneeweiße Hügellandschaft um Wangen. Das Fenster des Krankenzimmers, in dem Arman Garabed liegt, sieht aus wie ein Kitschposter. Hier hat die Familie Ärzte gefunden, die um den 38-Jährigen zumindest noch eine Weile kämpfen wollen. Jeden Tag fährt Armans Vater Narek in seinem kleinen Daihatsu 50 Kilometer zur Klinik.
Er kennt nicht das Merkblatt des Justizministeriums. Darin steht unter dem Punkt „Verhalten nach erfolgtem Suizid“ die Anweisung: „Keine Schuldzuweisungen“. Er tupft seinem Sohn den Mund ab, streicht über die Wangen und die schlaffen Arme, liest in einer Bibel. „Warum?“ fragt er immer wieder leise, lauscht in die Stille und spürt in der eigenen Brust, wie das Herz gegen den Verstand rebelliert.13